Der 90-Sekunden-Trick

Thema Progress:

Jill Bolte Taylor ist Neuroanatomin und erlitt vor einigen Jahren einen Schlaganfall. In ihrem Buch “Mit einem Schlag”* beschreibt sie diese Erfahrung und auch, wie sie anschließend grundlegende Funktionen wieder antrainieren musste, z. B. Sprechen. Ihre erstaunlichste Erfahrung betraf aber ihre Emotionen. Auch die musste sie quasi wieder völlig neu lernen – und erst einmal neu kennenlernen. Und dabei stellte sie fest, dass sich einige Emotionen so schlecht anfühlten, dass sie sie eigentlich nicht wieder als Teil ihres Selbst haben wollte. Und während sie ihre Emotionen krankheitsbedingt aus einer neuen Perspektive und mit einer gewissen Distanz erlebte, stellte sie Folgendes fest: Emotionen verschwinden nach ca. 90 Sekunden aus unserem System, wenn wir ihnen nicht zusätzliche Nahrung geben! Daraus leitete Jill Bolte Taylor eine Art 90-Sekunden-Regel für ein leichteres, glücklicheres Leben ab.

Emotionen sind auf körperlicher Ebene nichts anderes als ein “Hormoncocktail”, der aus einer unterschiedlichen Mischung von Hormonen gemixt ist und der innerhalb von Sekunden über unseren Blutkreislauf in unserem gesamten Körper verteilt unterschiedliche Aktionen auslöst. Adrenalin aktiviert z. B. die Beschleunigung von Herzschlag und Atmung für den Kampf-und-Flucht-Reflex, Oxytocin die “Schmetterlinge im Bauch” wenn wir uns verlieben.


Für unser Gehirn ist die schnelle Ausschüttung von Hormonen ein Überlebensmechanismus
(siehe übernächste Lektion), deshalb können wir gegen den Hormoncocktail selbst nichts machen. Was Jill Bolte Taylor allerdings erkannte ist, dass die Hormone nach 90 Sekunden wieder abgebaut sind, allerdings unter einer Voraussetzung: dass wir die von ihnen ausgelösten Emotionen nicht verstärken. Ein Beispiel: Wir bekommen schlechte Nachrichten. Hormone werden ausgeschüttet, rasen durch unsere Blutbahnen und machen schlechte Laune, bringen uns vielleicht sogar zum Weinen. Der Herzschlag beschleunigt sich, das Immunsystem wird abgebremst und die Körperfunktionen beeinträchtigt (denken Sie an das Video, das zeigt, wie unser Herzschlag sofort auf negative Emotionen reagiert).   Das alles würde jedoch nach 90 Sekunden ganz von selbst wieder in Balance kommen, wenn unser Gehirn jetzt nicht anfangen würde, alte Erinnerungen herauszukramen. “Das passiert mir immer” oder “Das Leben ist so ungerecht”, “XY ist eine falsche Schlange” oder “Ich kann das nicht” bzw. “Ich werde immer Pech haben” sind typische Gedanken, die ein solcher Hormoncocktail in uns auslösen kann. Und je länger wir in diesen Gedanken verweilen, desto länger und desto mehr der entsprechenden Hormone werden ausgeschüttet.

90 Sekunden, das sind mit etwas Übung in unserer Atemtechnik fünf bis acht tiefe Atemzüge. Die reichen schon aus, um die erste Welle der Hormone einfach ins Leere laufen zu lassen. “Tief durchatmen und bis 10 zählen” ist daher ein ziemlich guter Rat, in Verbindung mit der Atemtechnik allerdings noch etwas effektiver.      

Probleme sind allerdings leider nicht innerhalb von 90 Sekunden aus der Welt zu schaffen. Aber in Ruhe ist es einfacher, sie ohne allzu viele Emotionen anzuschauen und zu sortieren. Ohne Stress, der ja unseren kognitiven und emotionalen Zustand einschränkt, sind Probleme viel besser zu lösen. Wir haben für Sie ein Arbeitsblatt vorbereitet, mit dem Sie die Dinge besser sortieren können. Und beim nächsten Problem, das einen hormonellen Ausnahmezustand auslöst, haben Sie jetzt einen Plan B, auf den Sie zurückgreifen können – schon das hilft als erste Notfallmaßnahme.
Drucken Sie sich das Arbeitsblatt aus, das wir für Sie vorbereitet haben, und nehmen Sie sich ein bis drei Themen, die Sie in letzter Zeit belastet haben. Atmen Sie tief durch (wenn Sie dabei bis 90 zählen, haben Sie eine Vorstellung dafür, wie schnell man in Stresssituationen wieder “runterkommen” kann). Stellen Sie sich vor, wie die Hormone, die negative Emotionen verursachen, durch Ihre Blutbahnen schwimmen, aber immer mehr verblassen und schließlich verschwinden. Und nehmen Sie sich anschließend 5 Minuten Zeit, um Ihre Gedanken auf dem Arbeitsblatt ein bisschen zu “sortieren”. Und Sie werden feststellen, dass die Themen anschließend deutlich weniger Stress und negative Emotionen auslösen. So übernehmen Sie die Kontrolle und nicht die negativen Gefühle.

  *(Buchtipp: Jill Bolte Taylor: Mit einem Schlag. Wie eine Hirnforscherin durch ihren Schlaganfall neue Dimensionen des Bewusstseins entdeckt. 3. Auflage, 2008), ISBN-10: 3426873974